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Wolha Bryzikawa: Weswegen die Gewerkschaftsführerin zur „Terroristin“ erklärt wurde

Zur Zeit sitzen 29 Gewerkschaftsführer*innen und -aktivist*innen in belarussischen Gefängnissen. Das Portal Salidarnasz hat einen Zyklus von Beiträgen gestartet, die von einigen dieser politischen Gefangenen berichten.


Wolha Bryzikawa
Wolha Bryzikawa

„Wolha ist ein absolut positiver, korrekter Mensch, sie wollte Gerechtigkeit und Legalität.“ Das sagen Kolleg*innen über Wolha Bryzikawa aus Nawapolazk, die Anführerin der Belarussischen unabhängigen Gewerkschaft (BNP) beim Unternehmen Naftan war.


Ihre dramatische Geschichte begann im August 2020. Sie leitete seinerzeit bei Naftan die Abteilung für den Verkauf von Ölprodukten. Sie traf sich mit der Unternehmensführung und brachte die Forderungen der Mitarbeiter*innen gegenüber der Unternehmensführung und den Behörden zur Sprache. Dazu gehörte die Forderung nach einem Ende der Gewalt sowie nach dem Rücktritt von Aljaksandr Lukaschenka und der Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, Lidsija Jarmoschyna.


Danach nahm Brizikawa an einer spontanen Demonstration von Arbeiter*innen vor dem Gebäude der Unternehmensverwaltung teil. Dieses Mal noch blieb sie in Freiheit und erklärte vor vier Jahren in einem Interview für das Portal Salidarnasz, dass sie ihr Vorgehen nicht bereut, und dass sie aus der regimetreuen Gewerkschaft Belchimprafsajus bei Naftan austritt.


„Als wir die Auszählung der Stimmen der Menschen abschlossen, die die Forderungen unterschrieben hatten, hinterließ das Verhalten des Vorsitzenden der Basisorganisation der Belarussischen Gewerkschaft der Mitarbeiter*innen der Chemie-, Bergbau- und Ölindustrie (Belchimprafsajus) bei Naftan einen heftigen Eindruck: Er verließ für lange Zeit den Raum, kam dann traurig zurück und weigerte sich schließlich, das Protokoll zu unterschreiben. Da wurde mir absolut klar, wie sehr diese Gewerkschaft vom Arbeitgeber abhängig ist. Das war letztlich der Grund, warum ich dann aus dieser Gewerkschaft austrat.“


Sämtliche 16 Jahre, die Wolha bei Naftan arbeitete, war sie Mitglied von Belchimprafsajus (BChP) gewesen. Und sie hatte das, wie viele andere, für eine reine Formsache gehalten. Dass sie diese Gewerkschaft verließ, geschah nun jedoch aus grundsätzlichen Erwägungen. Zudem wurde Wolha einige Monate nach dem Treffen mit der Unternehmensleitung und der Demonstration bei Naftan entlassen.


„Ja, ich habe meine Arbeit verloren, dafür jedoch innere Harmonie erlangt. Ich konnte nicht mehr atmen – bis ich sah, wie viele Leute genauso dachten wie ich. Als ich am 14. August die Leute vor der Unternehmensverwaltung sah, ihre Stimmung, ihre Haltung, das war mir sehr viel wert…


Die Kolleg*innen sagten, dass wir eine unabhängige Gewerkschaft brauchen. Und wir gingen zur Belarussischen unabhängigen Gewerkschaft (BNP). Mir war klar geworden, dass das eine Plattform war, auf der wir uns zusammenschließen können. Und jetzt verteidigen wir uns gegenseitig“ (aus dem Interview von Wolha Brizikawa für Salidarnasz).


Maksim Pasnjakou, der geschäftsführende Vorsitzende des Belarussischen Kongresses demokratischer Gewerkschaften (BKDP) sagt: „Wolha war empört wegen der gefälschten Wahlen und der anschließenden Gewalt [durch die Sicherheitskräfte], die es 2020 gab. Sie und die Kolleg*innen, die ihr folgten, sahen in der Belarussischen unabhängigen Gewerkschaft (BNP) eine Organisation, die die Situation verbessern könnte, zumindest im Unternehmen.“


„Jetzt kann man nur sehr schwer sagen: ‚Kommen Sie zu uns [zur BNP], bei uns ist es super.‘ Weil die Leute in der Fabrik ja sehen, wie wir verprügelt werden. Wir werden unter Druck gesetzt, fast jede*r von uns wird wegen Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin verfolgt. Viele Arbeiter*innen haben die Möglichkeit verloren, in eine höhere Lohnklasse zu kommen. Ihnen wird gesagt:


‚Du willst die sechste Klasse? Dann trete aus deiner Gewerkschaft aus.‘

Oder: ‚Du willst in die Reserve der leitenden Angestellten? Wie soll das gehen? Du bist doch in der BNP…‘;

‚Zuschläge für hervorragende berufliche Leistungen – nein…‘


‚Dir steht eine Prämie wegen der Reparaturen im vergangenen Jahr zu? Du bist doch BNP-Mitglied, du kommst nicht auf die Liste…‘


Wir haben es schwer, aber es ist interessant. Irgendwann verstand ich: Was für ein Glück, dass ich diese Leute kennengelernt habe, die so standhaft sind. Sie werden verprügelt, aber sie kämpfen; sie werden verprügelt, aber sie leisten Widerstand“ (aus dem Interview von Wolha Brizikawa für Salidarnasz).


Aljaksandr Sakalou, Aktivist von Rabotschy Ruch (dt.: „Arbeiter*innenbewegung“) [eine Initiative, in der sich Werktätige in der Republik Belarus zum Schutz ihrer bürgerlichen und Arbeiter*innenrechte und -freiheiten engagieren; d. Red.] lernte Wolha bei jener Demonstration am 14. August 2020 vor der Unternehmensverwaltung von Naftan kennen.


„Wolha hat immer gesagt, wenn man zwischen moralischen und materiellen Fragen wählen muss, werde sie sich für die Moral entscheiden. Sie hatte eine gute Stelle bei Naftan und verdiente gut. Ich weiß, dass sie, selbst nachdem sie entlassen und weiter in der Belarussischen unabhängigen Gewerkschaft aktiv war, einen guten Posten mit guter Bezahlung angeboten bekam. Unter anderem im Ausland.


Wolha war jedoch prinzipientreu und beharrlich. Sie war der Ansicht, dass sie den Leuten helfen müsse, dass sie zielstrebig versuchen müsse, das Leben in ihrer Heimat zum Besseren zu verändern. Für sie waren in erster Linie Gerechtigkeit und Unterstützung für andere wichtig.“

„Ich kann doch nicht sagen: ‚Ich habe keine Angst, also hab du auch keine Angst!‘ Schließlich fürchte ich mich auch, die Angst ist ja trotzdem da. Ich wurde entlassen, da hätte ich ja ganz ruhig…, ich hätte ja eine andere Arbeit suchen können. Doch dann hätte ich das Gefühl gehabt, dass ich jene verraten würde, mit denen ich den Weg seit dem 14. August gegangen war.


Ich war der Ansicht, dass es für mich wichtig ist, zu bleiben und die Chance nutzen, dass alle Mitarbeiter*innen von Naftan sich absolut im Rahmen des Gesetzes auf einer legalen Gewerkschaftsplattform zusammenschließen“ (aus dem Interview von Wolha Brizikawa für Salidarnasz).


Wolha hat seinerzeit ganz, ganz vielen Leuten geholfen, auch jenen, die mit Repressionen überzogen wurden. Bis die Repressionsmaschine sich gegen sie selbst wendete.


Wolha erhielt 75 Tage Arrest, weil sie sich gegen den Krieg ausgesprochen hatte. Dann 15 weitere Tage wegen der Verbreitung „extremistischer Materialien“. 2022 verbrachte sie insgesamt 105 Tage hinter Gittern.



Aljaksandr Sakalou: „Sie sagte, sie könne sich nicht damit abfinden, was in ihrem Belarus vor sich geht, sie könne damit nicht leben. Auch wenn man ihr sagte: ‚Wolha, sie werden dich einbuchten. Du siehst doch was vor sich geht.‘ Sie weigerte sich außer Landes zu gehen und sagte: ‚Das ist mein Land, meine Heimat, mein Nawapolazk, und ich werde für Veränderungen kämpfen‘ “.


Im August 2023 wurde Wolha erneut festgenommen und nach Paragraf 130 des Strafgesetzbuches angeklagt [Entfachung von Hass oder Feindschaft aus rassischen, ethnischen, religiösen oder anderen sozialen Motiven (Volksverhetzung); d. Red.]. Brizikawa wurde zu drei Jahren Freiheitsentzug mit allgemeinen Haftbedingungen verurteilt. Im Juni 2024 wurde sie auf die Liste der belarussischen Staatsangehörigen, Ausländer*innen und Staatenlosen gesetzt, die sich an „extremistischer Tätigkeit“ beteiligten.


Im August 2024 fand ein weiterer Gerichtsprozess gegen Wolha statt, bei dem sie nach drei Paragrafen angeklagt und zu weiteren drei Jahren Strafkolonie verurteilt wurde. Nach einer Berufung vor dem Obersten Gericht wurde das Strafmaß des zweiten Urteils um ein Jahr reduziert. Sämtliche Anklagepunkte waren fingiert. Wolhas tatsächliche „Schuld“ bestand darin, dass sie dem diktatorischen Regime gegenüber nicht loyal war.


Maksim Pasnjakou sagt: „Jetzt muss sie fünf Jahre im Gefängnis sitzen. Leider ist vor kurzem, im Februar dieses Jahres, Brizikawas Mutter verstorben, und Wolha hatte keine Möglichkeit, von ihr Abschied zu nehmen. Das ist eine sehr tragische Geschichte.

Ich leide sehr mit Wolha mit. Sie ist eine starke und ehrliche Frau, die sich für Gerechtigkeit einsetzt, die zu Opfern bereit war und sich dem System gegenüber nicht beugen wollte. Das Wichtigste ist aber: Sie wollte keine Angst vor dem System haben – und sie hatte auch keine.“


Aljksandr Sakalou fügt hinzu: „Wolha befindet sich jetzt in der Frauenstrafkolonie von Homel. Vor kurzem, im Januar 2025, hat der KGB sie auf die sogenannte Terroristenliste gesetzt.“


Das wurde gemacht, um den Druck auf sie zu erhöhen, weil dadurch die Zahl der Besuche und Päckchen sowie die Kommunikation mit anderen reduziert wird. Man will sie also von der Außenwelt isolieren und versuchen, sie zu brechen. Sie wird jedoch immer noch von sehr, sehr vielen unterstützt, die ihr Briefe schreiben. Wolha ist eine starke Person, und ich bin mir sicher, dass die es nicht schaffen, sie zu brechen.“


Am 19. April findet im Rahmen der Kampagne „Gewerkschaftliche Tätigkeit ist kein Extremismus!“ ein Aktionstag für Gewerkschaftsrechte und Demokratie in Belarus statt, an dem die Freilassung belarussischer Gewerkschaftsführer*innen gefordert wird, die sich derzeit in Haft befinden.


Diese Kampagne wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Lage der Arbeiter*innenrechte in Belarus zu lenken. Im Land herrschen Polizeiterror, Folter und Hetze gegen jene, die mit dem diktatorischen Regime von Lukaschenka nicht einverstanden sind, auch gegen Gewerkschaftsaktivist*innen.


Die Kampagne fordert die Freilassung der Gewerkschaftler*innen und politischen Gefangenen, ein Ende der Repressionen gegen Gewerkschaftsaktivist*innen und eine Wiederherstellung der Garantien für eine legale Tätigkeit von unabhängigen Gewerkschaften.


Die Kampagne wird von dem Verein Salidarnast organisiert, der Gewerkschaftsaktivist*innen unterstützt. Die Kampagne beginnt am 19. April, dem Jahrestag der Pogrome gegen Gewerkschaften, die das Lukaschenka-Regime 2022 veranstaltet hatte.


„Ich bin vielen begegnet, die sich entschieden haben nicht zu schweigen, die sich mit dem, was rundum geschah und weiter vor sich geht, nicht abfinden wollen. Sonst hätte ich nicht weiterleben können; viele von uns wären aus emotionaler Anspannung gestorben, bei der es keinen Ausweg gibt, außer krank zu werden....


Man muss nicht den großen Wurf versuchen. Mache einfach, was du kannst, mit dem, was du hast, dort, wo du bist. Es gibt welche, die meinen, dass das wie ein Kampf gegen Windmühlen sei. Oder dass man „allein auf dem Schlachtfeld kein Krieger“ sei.

Wenn aber jede*r einsame Kämpfer*in ins Feld zieht, dann finden wir uns dort unbedingt zusammen und sind nicht mehr allein“ (aus dem Interview von Wolha Brizikawa für Salidarnasz).


Wiktorya Liavonzewa


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