„Stairway to Heaven“: Die Geschichte von Sjarhej Schelest
- Salidarnast Belarus
- vor 4 Tagen
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Gegenwärtig sitzen in den belarussischen Gefängnissen und Strafkolonien 29 Gewerkschaftsführer*innen und -aktivist*innen. Salidarnasz setzt die Reihe von Beiträgen fort, die von einigen dieser politischen Gefangenen berichten.
… Ende September 2020 hing am Fernsehturm in Hrodna in 170 Metern Höhe plötzlich eine weiß-rot-weiße Flagge. Sie wurde natürlich schleunigst entfernt. Die beiden Personen, die sie dort angebracht hatten, wurden zu 10 Tagen Administrativarrest verurteilt. Später wurden Sjarhej Schelest und Andrej Paheryla zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

„Ich habe Sjarhej Schelest 2020 kenngelernt“, erzählt Lisaweta Merljak, internationale Sekretärin der Belarussischen Unabhängigen Gewerkschaft (BNP), in der Arbeiter*innen u.a. aus den Branchen Chemie, Bergbau, Ölverarbeitung und Transportwesen zusammengeschlossen sind, gegenüber Salidarnasz. Mein Arbeitsplatz war das Büro der Belarussischen Unabhängigen Gewerkschaft beim Düngemittelhersteller „Hrodna Asot“, und Sjarhej arbeitete ausgerechnet bei diesem Unternehmen.
Damals kamen viele Arbeiter*innen zu uns, die der Unabhängigen Gewerkschaft beitreten wollten. Einmal kam auch Sjarhej mit seinem Freund Andrej Paheryla; die beiden galten nach der Flaggenaktion ja als Helden. Auch wenn die älteren Kolleg*innen ihnen sagten, sie sollten auf sich aufpassen und vorsichtig sein.
Während der zehn Arresttage waren Sjarhej und Andrej natürlich nicht am Arbeitsplatz, anschließend kamen sie aber wieder zurück. Lange haben sie dort aber nicht mehr gearbeitet, Sie wurden bald schon entlassen, weil sie sich am 26. Oktober am Streik beteiligten. Formal diente als Grund, dass sie nicht am Arbeitsplatz waren, nämlich genau in der Zeit, als sie in Arrest waren.
Das war übrigens das erste Mal, dass ein neuer Paragraf des Arbeitsgesetzbuches angewendet wurde. Wenn bei Fehlzeiten aufgrund von Administrativarrest dies früher noch als vertretbarer Grund galt, war das nach den Gesetzesänderungen nicht mehr so.
Sjarhej und Andrej wurden rückwirkend entlassen. Wir als Vertreter*innen der Unabhängigen Gewerkschaft halfen ihnen natürlich, weil die Entlassung rechtswidrig war.
2020 wurde auch die Initiative Rabotschy Ruch [„Arbeiterbewegung“; d. Red.] gegründet, in der sich Arber*innen zusammenschlossen, unter anderem Anführer*innen und Aktivist*innen der Gewerkschaften und der Streikbewegung.“
Jury Rawawy, ehemaliger Mitarbeiter von „Hrodna Asot“ und stellvertretender Vorsitzender des Streikkomitees im Unternehmen, erinnert sich:
Ich habe Sjarhej getroffen, als bei „Hrodna Asot“ das Streikkomitee gegründet wurde. Er war damals bereits Aktivist der Unabhängigen Gewerkschaft. Er ist ein offener, großherziger Mensch mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Er versuchte seine Kolleg*innen zu überzeugen, dass man in der Situation, die sich in Belarus ergeben hatte, nicht schweigen oder sich heraushalten dürfe. Wir nahmen beide an der Rabotschy Ruch teil, bis zu dem Augenblick, da Sjarhej festgenommen wurde.“
Sjarhej Schelest, der ehemalige Mitarbeiter von „Hrodna Asot“, wurde zu 14 Jahren Freiheitsentzug unter verschärften Bedingungen verurteilt, und zwar nach drei Paragrafen des Strafgesetzbuches: Gründung einer extremistischen Gruppierung oder Beteiligung daran, Verleumdung und Landesverrat. Angeklagt wurde er im Rahmen des Verfahren gegen Rabotschy Ruch, bei dem zehn Personen zu unterschiedlichen Haftstrafen von 11 bis 15 Jahren verurteilt wurden. Unter den Verurteilten waren sechs Aktivist*innen der Belarussischen Unabhängigen Gewerkschaft. Sie bekannten sich allesamt für unschuldig.
„Sjarhej hatte Informationen erhalten, dass er festgenommen werden könnte. Man riet ihm auszureisen, doch das wollte er nicht“, berichtet Jury Rawawy gegenüber Salidarnasz. „Er sagte, er tue nichts Ungesetzliches, und nahm an, dass es, wenn sie ihn festnehmen, allerhöchstens für einige Tage sein würde. Außerdem erwartete seine Freundin ein Kind, und Sjarhej konnte sie einfach nicht hängenlassen. Das alles endete aber leider mit 14 Jahren Knast.
Als sie kamen, um Schelest festzunehmen, konnte er fliehen; er versteckte sich eine Weile außerhalb der Stadt und schaffte es sogar bis zur Grenze, um Belarus zu verlassen. Mitarbeiter*innen des KGB nahmen jedoch seine Freundin fest und ließen Sjarhej wissen, dass sie, wenn er sich nicht stellen würde, seine Freundin ins Gefängnis werfen.
Sjarhej hatte keine Wahl, er kam zurück; seine Freundin verlor leider ihr Kind. Es tut weh, über all das zu sprechen.
Sjarhej sitzt seine Strafe in einem Gefängnis in Mahiljou ab. Wir haben leider praktisch keinerlei Informationen darüber, was dort vor sich geht, und wie sein Gesundheitszustand ist. Wir hoffen aber, dass es keine ernsten Probleme gibt.“
Jan-Niclas Gesenhues, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen und symbolisch Pate von Sjarhej Schelest, erklärte in einem Interview gegenüber Salidarnasz, die Inhaftierung friedlicher Aktivist*innen sei einfach nicht hinnehmbar:
Sjarhej Schelest hat schlicht von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit Gebrauch gemacht, jenen grundlegenden Rechten, die in jedem Land gewahrt sein sollten, auch in Belarus. Die Tatsache, dass er allein wegen der Beteiligung an dem Streik zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, macht die Brutalität des Regimes gegenüber Menschen deutlich, die für ihre Rechte und eine bessere Zukunft kämpfen. Deshalb rufe ich dazu auf, Sjarhej Schelest und alle anderen politischen Gefangenen, die wegen fingierter Beschuldigungen in belarussischen Gefängnissen einsitzen, unverzüglich freizulassen.“
Lisaweta Merljak fügt hinzu:
„Artur Bohusch, mein Kollege von der Unabhängigen Gewerkschaft, sagte mir kürzlich: ‚Wenn sich das Regime in Belarus verändert, wenn es in Belarus Demokratie gibt, errichten wir Sjarhej Schelest und Andrej Paheryla ein Denkmal: Eine Leiter, die in den Himmel führt und auf der zwei Figuren mit der Flagge stehen, während das Lied von Led Zeppelin erklingt: Stairway to Heaven.“
Am 16. April findet im Rahmen der Kampagne „Gewerkschaftsaktivismus ist kein Extremismus!“ ein Aktionstag für Gewerkschaftsrechte und Demokratie in Belarus statt, auf dem die Freilassung belarussischer Gewerkschaftsführer*innen gefordert wird, die sich derzeit in Haft befinden.
Diese Kampagne wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Lage der Arbeiter*innenrechte in Belarus zu lenken. Im Land herrschen Polizeiterror, Folter und Hetze gegen jene, die mit dem diktatorischen Regime von Lukaschenka nicht einverstanden sind, auch gegen Gewerkschaftsaktivist*innen.
Die Kampagne fordert die Freilassung der Gewerkschaftler*innen und politischen Gefangenen, ein Ende der Repressionen gegen Gewerkschaftsaktivist*innen und eine Wiederherstellung der Garantien für eine legale Tätigkeit von unabhängigen Gewerkschaften.
Die Kampagne wird von dem Verein Salidarnast und dem Belarussischen Kongress demokratischer Gewerkschaften (BKDP) organisiert, die Gewerkschaftsaktivist*innen unterstützen. Die Kampagne findet aus Anlass des 16. April statt, des Jahrestags der Pogrome gegen Gewerkschaften, die das Lukaschenka-Regime 2022 veranstaltet hatte.
Viktoria Leontjewa
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