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Sjarhej Antussewitsch: „Im Gefängnis und nach dem Gefängnis sind politische Gefangene für den Staat keine Menschen mehr“

Sjarhej Antussewitsch, der stellvertretende Vorsitzende des Belarussischen Kongresses demokratischer Gewerkschaften, berichtet gegenüber dem Portal Salidarnasz über die Lebensbedingungen in den belarussischen Untersuchungsgefängnissen und in den Strafkolonien, über gebrochene Schicksale, „Stolypin–Waggons“ und politische Gefangene in Handschellen, über „Böswillige“, eine neue, weitere „Zone“ und das „schwarze Brandmal“ nach dem Gefängnis. Und trotz allem auch über Hoffnung.



Am 19. April findet im Rahmen der Kampagne „Gewerkschaftliche Tätigkeit ist kein Extremismus!“ ein Aktionstag für Gewerkschaftsrechte und Demokratie in Belarus statt, auf dem die Freilassung belarussischer Gewerkschaftsführer*innen gefordert wird, die sich derzeit in Haft befinden.


Diese Kampagne wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Lage der Arbeiter*innenrechte in Belarus zu lenken. Im Land herrschen Polizeiterror, Folter und Hetze gegen jene, die mit dem diktatorischen Regime von Lukaschenka nicht einverstanden sind, auch gegen Gewerkschaftsaktivist*innen.

Die Kampagne fordert die Freilassung der Gewerkschaftler*innen und politischen Gefangenen, ein Ende der Repressionen gegen Gewerkschaftsaktivist*innen und eine Wiederherstellung der Garantien für eine legale Tätigkeit von unabhängigen Gewerkschaften.


Die Kampagne wird von dem Verein Salidarnast organisiert, der Gewerkschaftsaktivist*innen unterstützt. Die Kampagne beginnt am 19. April, dem Jahrestag der Pogrome gegen Gewerkschaften, die das Lukaschenka-Regime 2022 veranstaltet hatte.


Sjarhej Antussewitsch ist stellvertretender Vorsitzender des Belarussischen Kongresses demokratischer Gewerkschaften (BKDP). Er hat zehn Jahre die unabhängige Gewerkschaft Hrodna Asot geleitet.


Er wurde am 19. April 2022 festgenommen und zusammen mit seinen Kolleg*innen Aljaksandr Jaraschuk und Iryna But-Husaim nach Paragraf 342 des Strafgesetzbuches beschuldigt (§ 342: Organisation und Vorbereitung von Handlungen, die grob die öffentliche Ordnung stören, oder die aktive Beteiligung daran).


Er wurde vom Gericht zu zwei Jahren Strafkolonie unter allgemeinen Haftbedingungen verurteilt. Am 21. April 2023 setzte ihn das Innenministerium auf die „Extremistenliste“. Am 31. Oktober 2023 ist er freigekommen.


Das Leben in Belarus verläuft heute, in Anspielung an einen Hollywoodklassiker, unter dem Vorzeichen „Forward to the Past“. Ich kann mir vorstellen, dass Sie das voll und ganz zu spüren bekommen haben.


– Meinen Kolleg*innen vom BKDP war klar, dass nach 2020 praktisch ein Krieg gegen die Zivilgesellschaft begonnen hatte, nicht nur gegen die Gewerkschaften. Das Regime versuchte, Organisationen zu vernichten, die eine alternative Sicht auf die Entwicklung der Lage im Land haben.


Wir konnten bei dem, was vor sich ging, nicht beiseite stehen, was dann auch der Grund war, warum wir verfolgt wurden. Ich erinnere mich sehr gut an den 19. April 2022, als ein Dutzend Männer in unser Büro gestürmt kamen und schrien: „Hände weg vom Computer!“

Aljaksandr Jaraschuk [der Vorsitzende des BKDP; d. Red.] und ich wurden sofort in Handschellen gelegt. Mich haben sie an die Wand gestellt, Gesicht zur Wand. Neben mir zwei Mann, die aufpassten, dass ich nicht meinen Kopf drehe und sehe, was hinter mir vor sich geht.


Dann verlas uns der Mensch, der das Ganze leitete, einen Haufen Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch, nach denen wir beschuldigt werden. Ich versuchte, mir wenigstens einige zu merken, aber es waren einfach zu viele.


Dann brachten sie mich zum KGB (belar.: KDB), in das Gebäude am Unabhängigkeits-Prospekt, und es begannen stundenlange Verhöre. Einige Male wurde ich zur Toilette gebracht, und auf dem Flur sah ich in allen Zimmern, bei denen die Türen offenstanden, dass da meine Kolleg*innen sitzen.


Soweit ich weiß, wurden an diesem Tag 24 Menschen festgenommen, vielleicht auch mehr. Zum Glück sind nicht alle im Gefängnis gelandet. Ich denke aber, dass von vorn hinein feststand, wer dort landen wird.


Spät in der Nacht war ich im Untersuchungsgefängnis des KGB, in der „Amerykanka“. Ich sah diesen Ort nun zum ersten Mal mit eigenen Augen.


Meine drei Zellengenossen sagten mir: Lass lieber die Klamotten an, es ist kalt hier. Das Fenster der Zelle war ständig offen. Wenn es geschlossen wäre, hätte sich an den Wänden Feuchtigkeit gesammelt, und es hätte sich Schimmel gebildet. Und das bedeutet unausweichlich Lungenkrankheiten. Daher gab es keine große Alternative. Wir mussten in voller Montur schlafen.


Ich hatte noch Glück: Es gab ein Klo und ein Waschbecken in der Zelle. Diesen Komfort gab es nicht in jeder Zelle. Dann wurden die Häftlinge zwei Mal am Tag zu den allgemeinen Toiletten geführt. Das ist natürlich eine zusätzliche Belastung für den Körper, und für die Psyche, wenn du nämlich deine Notdurft vor anderen Leuten verrichten musst, in einem offenen Raum. Das habe ich erst später selbst erlebt. Daran musste man sich gewöhnen, was blieb uns anderes übrig?


Meine Kolleg*innen und ich waren zehn Tage in der „Amerykanka“. Dann wurden wir nicht mehr als Festgenommene, eingestuft, sondern als Verdächtige. Und wir wurden in das Untersuchungsgefängnis Nr. 1 verlegt, in die „Waladarka“.


Dort traf ich meinen alten Bekannten wieder, Andrej Patschobut (poln.: Andrzej Poczobut), einen Journalisten und Aktivisten des Bunds der Pol*innen in Belarus. In meiner Zelle in der „Waladarka waren von den 15 Insassen neun politische Gefangene. Unter anderem Pawel Belawus [Begründer und ehemaliger Direktor der Plattform Art Sjadsiba („Art Community“) und Gründer der Vertriebsplattform Symbal.by, die nationale Symbole und Souvenirs anbietet; d. Red.]. Und ich traf dort Aljaksandr Feduta [promovierter Philologe, Politologe, Journalist und Literaturwissenschaftler; d. Red.].



„Sie geben dir zu verstehen, dass sie mit dir machen können, was sie wollen“


In der Waladarka waren die Haftbedingungen noch härter?


— Ich würde sagen, sie waren erniedrigender. Von den Toiletten habe ich ja schon erzählt. Wenn du in der „Amerykanka“ noch deine drei Zellengenossen vorwarnst, dass du deine Notdurft verrichten musst, so bestanden in der „Waladarka streng festgelegte Regeln: die Zeitabstände waren größer und es gab mehr Leute.


Es gab da noch ein Detail, das sehr unangenehm war: Aluminiumbecher ohne Griffe. Wenn da heißer Tee drin ist, kannst du die nicht in die Hand nehmen. Dann trinkst du entweder kalten Tee oder gar keinen.


Wir haben aus einer Plastikflasche etwas gebastelt, damit man den Becher in die Hand nehmen und den Tee noch heiß trinken konnte. Während der Zellenkontrollen haben wir das von den Bechern abgebaut; manchmal warfen wir es selbst weg, manchmal wurde es einkassiert.


In den neun Monaten bis zum Gerichtsprozess kamen manchmal andere Leute mit ihren eigenen „Ingenieurs“-Tricks in meine Zelle. Einer stülpte zum Beispiel von unten eine sehr fest gestrickte Socke über den Becher, so dass man sich nicht mehr die Finger verbrannte.


Und warum der Becher ohne Griff? Sollte das eine weitere Form staatlicher Erniedrigung in der Haft sein?


— In Wirklichkeit ist die Logik der Leute, die all das machen, nur sehr schwer zu verstehen. Wahrscheinlich gibt es gar keine. Und ja: Sie geben dir auf diese Weise zu verstehen, dass sie im Grunde mit dir machen werden, was sie wollen.


Das mit dem Griff ist natürlich Kleinkram, aber aus solchen Kleinigkeiten ergibt sich die Haltung zu den Gefangenen. Die sind ja da noch gar nicht Häftlinge, sondern Beschuldigte, über die das Gericht noch kein Urteil gefällt hat.



„Hättest halt besser unseren Präsidenten lieben sollen“


Wie verlief der Prozess?


— Uns wurde zu dritt der Prozess gemacht. Und ich muss sagen, sie haben es recht schnell über die Bühne gebracht. Der Prozess begann am 20. Dezember und schon am 26. wurde das Urteil verkündet.


Es ist klar, dass das Rechtssystem in Belarus – auch wenn es nur schwerlich ein Rechtssystem genannt werden kann – kein Interesse daran hat, bei Verfahren nach „politischen“ Paragrafen die Dinge objektiv zu untersuchen.


Von der Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung will ich gar nicht erst reden. Das ist alles dermaßen willkürlich, dass dich die Anwälte gegen gar nichts verteidigen können; im Grunde werden sie von niemandem gehört. Alles ist im Voraus entschieden, die Gerichtsverhandlungen verlaufen absolut als reine Formsache.

Wir wurden wegen zweier Teilnahmen an Demonstrationen in Minsk angeklagt. Aljaksandr Jaraschuk wurde nach einem weiteren Paragrafen angeklagt.


Nach dem Gerichtsprozess wurde ich einen Monat später von Minsk in einem „Stolypin–Waggon“ in das Gefängnis von Mahiljou verbracht. [Als „Stolypin-Waggons“ werden im Jargon bis heute spezielle Waggons zum Transport von Untersuchungshäftlingen und Strafgefangenen bezeichnet. Die Bezeichnung kam in sowjetischer Zeit auf, bezog sich aber auf die Waggons, die 1908 eingeführt wurden. Damals was Pjotr Stolypin Ministerpräsident des russischen Zarenreiches. Die damaligen Waggons waren allerdings für Umsiedler gedacht, die in den Osten des Landes zogen, und nicht für den Transport von Häftlingen. Die ursprünglichen Waggons hatten Gitter an den Fenstern, jedoch nicht im Innern. – d. Red.]


Die politischen Gefangenen werden in Handschellen transportiert. Ich hatte darüber zwar schon von anderen gehört, doch war es für mich trotzdem eine unangenehme Überraschung. Interessant ist, dass ich der einzige Politische im Waggon war, und in Handschellen, während alle anderen, unter anderem ein zu 19 Jahren verurteilter Mörder, ohne Handschellen blieben.


Nach einigen Stunden Fahrt bat ich die Wache, die Handschellen etwas zu lockern. Sie schauten es sich an, sagten aber, dass doch alles in Ordnung sei.

Ich sagte: „Aber ich kann doch aus diesem Waggon nirgendwohin fliehen. Könnte man sie nicht vielleicht ganz abnehmen?“ Worauf eine der Wachen antwortete: „Hättest halt besser unseren Präsidenten lieben sollen.“


In der Strafkolonie in Mahiljou traf ich einen Bekannten, der ebenfalls in Handschellen transportiert worden war. Ich war acht Stunden unterwegs, bei ihm waren es 60.



„Nach zehn Tagen Kolonie wurde ich zum ‚Böswilligen‘ “


Was ist in der Haft das Schwierigste?


— Wenn du an einen solchen Ort kommst, ist alles schwierig. Dein Leben ändert sich derart grundlegend, dass man es nicht beschreiben kann. Du kannst ganz lange nicht begreifen, dass das alles wirklich mit dir passiert.


Es gab da zum Beispiel Kontrolleure, die kamen zu den Zellen, öffneten die Futterklappe (viele werden gesehen haben, wie die aussieht, wenn das Essen ausgeteilt wird) und dann musst du Namen und Nachnamen nennen, den Paragrafen, nach dem du verurteilt wurdest, und die Nummer des Schlafplatzes. In der Regel geschah das täglich zwei Mal.


Nach anderthalb Monaten im Gefängnis von Mahiljou dachten sie sich eine neue Sache aus: Wir wurden jede Woche in eine neue Zelle verlegt. Das ist einerseits unangenehm: Du stehst ständig unter Spannung, weißt nicht, wer deine neuen Zellengenossen sein werden. Andererseits konnte ich dadurch einige meiner Kollegen sehen und habe praktisch alle kennengelernt, die dort wegen der sogenannten Extremistenparagrafen einsaßen.

In der Kolonie musste ich schon zwei Tage nach der Ankunft in der Strafzelle hocken.


Weswegen kamen Sie da hin?


— Wegen Verstößen gegen die Vorschriften für die Strafverbüßung. Nach Ansicht der Anstaltsleitung verletzen praktisch alle politischen Gefangenen böswillig diese Vorschriften.

Zum „Böswilligen“ wurde ich allerdings erst nach zehn Tagen Haft in der Kolonie von Mahiljou. Ich habe zwei Mal gegen die Kleiderordnung verstoßen. Das erste Mal war das so: Wir machten die Räume in der Quarantänestation sauber, hatten an die zehn Bottiche Wasser auf den Boden gekippt, um ihn zu putzen, und ich war barfuß in Schlappen.


Als wir fertig waren, wurde mir gesagt, dass mich der Chef der Einheit vorlädt. Ich war ganz neu, verstand noch nicht, wie es läuft, und ging in diesen Schlappen zum Chef, hatte es grad noch geschafft, Socken anzuziehen. Da habe ich meine zehn Tage Strafzelle bekommen.


Das zweite Mal habe ich die Anstaltsordnung in der Strafzelle verletzt; ich habe dort den Kittel für eine Minute abgelegt, weil es in der Zelle sehr stickig war. Ich hatte ihn abgelegt, mich mit kaltem Wasser übergossen und ihn dann wieder angezogen. Aber das Foto aus der Zelle, wo ich nicht in voller Anstaltsuniform zu sehen war, war schon gedruckt und der Bericht schon geschrieben.


Wenn du zwei Mal solche Verstöße begangen hast, bist du ein „Böswilliger“. Dann kannst du jeden Augenblick in einen „Zellenartigen Raum“ verlegt werden [belaruss. Abk.: PKT; Zelle für sanktionierte Insassen, ohne persönliche Habseligkeiten, mit stark begrenztem Hofgang, sehr beschränktem Telefonkontakt; d. Red.] und den Paragrafen 411 [des belarussischen Strafgesetzbuchs] anwenden [§ 411: Böswillige Nichtbefolgung von Anordnungen der Leitung einer Besserungsanstalt, die den Vollzug von Freiheitsstrafen unternimmt; d. Red.].


Wofür kann man in die Strafzelle kommen? Zum Beispiel bezeichnen alle Häftlinge den Produktionsbereich, in dem gearbeitet wird, als „Promka“ [dt. in etwa: „Produktille“], und die Tasche, in der du deine Sachen aufbewahrst, als „Casher“. Und sobald du „Produktille“ oder „Casher“ sagst, benutzt du Wörter aus dem Gefängnisjargon und kannst dafür für zehn Tage in die Strafzelle kommen. Mittlerweile schon für 15 Tage. Wobei auch die Mitarbeiter*innen der Anstaltsverwaltung solche Worte verwenden.


Und wie verhielten sich die anderen Häftlinge zu Ihnen, diejenigen, die keine Politischen waren?


— Das Verhalten war OK, weil mein Paragraf normal war, aus Sicht der Gefängnisinsassen. Es gab natürlich unterschiedliche Leute, aber im Großen und Ganzen hatte ich keine Probleme. Auch wenn die Verwaltung allen Häftlingen sagt, dass sie mit uns keinen Kontakt haben dürfen, und dass man dafür in die Strafzelle kommen kann.



„Die belarussische Gesellschaft hat die Vernichtung von Einzelschicksalen und ganzen Familien erlebt und erlebt das weiterhin.“


–  Aleksej Wenediktow sagte kurz nach der Invasion russischer Truppen in die Ukraine: „In Geschichtsbüchern zu leben bedeutet eine Katastrophe“. Lebt auch Belarus in Geschichtsbüchern?


— Ich meine: Ja. Die belarussische Gesellschaft hat Geschichten der Vernichtung von Einzelschicksalen und ganzer Familien erlebt und erlebt das weiterhin.


Was die meisten dieser Menschen maximal getan haben, war, auf die Straße zu gehen, auf eine friedliche Versammlung, eine Demonstration, was übrigens ein von der Verfassung garantiertes Recht ist. Oder sie haben im Internet einen Kommentar geschrieben.


Ich habe schließlich Leute getroffen, die einfach einen Smiley in den sozialen Netzwerken abgesetzt hatten. Da gab es zum Beispiel einen älteren Mann, so um die 70, der für einen Smiley anderthalb oder zwei Jahre bekommen hat.


Wie viel Menschen sind nach Ihren Informationen in Belarus heute aufgrund politischer Anklagen in Haft?


— Nach offiziellen Angaben von Menschenrechtsorganisationen sind es über 1.200. Die rund 240 Personen, die im vergangenen Jahr begnadigt wurden und freikamen, sind dabei berücksichtigt. Ich habe aber auch Leute getroffen, die nach sämtlichen Merkmalen politische Gefangene waren, aber nicht auf den Listen der Menschenrechtsorganisationen standen. Und keiner weiß von ihnen. Die sind ja mit der ganzen Familie hinter Gitter gewandert.


Ich war einige Male Zeuge, als zum Beispiel der Mann in eine Strafkolonie kam und seiner Frau „häusliche Chemie“ verordnet wurde [Hausarrest, bei dem der oder die Verurteilte in Freiheit bleibt, allerdings mit Beschränkungen. Es bestehen zeitliche Auflagen für persönliche Angelegenheiten. Es kann jeden Tag und jederzeit zu Kontrollen kommen; d. Red.].



„Du kannst keine normale Arbeit finden, weil dir das schwarze Brandmal eines ‚Extremisten‘ anhaftet“


Wie ging es in Ihrem Leben nach dem Gefängnis weiter?


— Die erste Zeit war ich voller Euphorie, weil ich nicht mehr die schwarze Anstaltskleidung tragen musste; die „Stekljaschka“, wie sie genannt wird [dieser Jargon-Begriff geht auf die „Glas-“ bzw. Kunstfasern zurück, aus denen die Kleidung gemacht ist; d. Red.]. Und weil ich nicht mehr genau um sechs Uhr morgens aufstehen und mich genau um zehn Uhr abends schlafen legen musste, weil ich nicht mehr in Reih und Glied gehen musste.


Aber später verstehst du dann, dass du immer auf der sogenannten Prophylaxe-Liste stehen wirst, dass du dem Regime gegenüber verwundbar bist, und dass die Bürokraten des Regimes jeden Augenblick ein neues, aus der Luft gegriffenes Strafverfahren gegen dich eröffnen können. Selbst dann, wenn du gemessen an den Vorgaben des derzeitigen Rechtssystems von Belarus nichts gesetzeswidriges getan hast.


Auch wenn du nirgendwo auffällst, haben sie dich im Auge. Das ist wohl das Schlimmste: Es gibt heute in Belarus eine große Menge Leute, die das Regime für unzuverlässig oder sogar für Verräter hält. Und es interessiert niemanden, was du in deinem früheren Leben konkret gemacht hast. Du bist gebrandmarkt und wirst das nicht los, solang das Regime besteht.


Für mich war es eine ziemlich unangenehme Entdeckung, dass mein gesamtes soziales Kapital bei null lag. Ich bin für das System ein Niemand, genauer gesagt: ein Verbrecher, ein „Knacki“. Und das für immer. Du kannst darüber streiten oder auch nicht, das juckt die keine Spur. Und wenn die jungen Frauen in der Inspektion, bei der ich mich melden musste, mich mit Leichtigkeit piesackten und vulgär fluchten, wurde mir klar, dass ich aus einer „Zone“ [Strafkolonie; d. Red.] in die nächste geraten war.


Außerdem sehen die heutigen Gesetze in Belarus nicht vor, dass du zu einem normalen Leben zurückkehren kannst. Zum Beispiel kannst du keine normale Arbeit finden, weil dir die schwarze Markierung eines „Extremisten“ anhaftet. Dieses schwarze Brandmal ist immer präsent, wenn du mit Beamt*innen zu tun hast, das kann kein Anzug verdecken.


Hinzu kommt, dass man bei einer Bewerbung Zeugnisse von zwei früheren Arbeitgebern braucht. Wo soll ich die herbekommen, wenn doch alle Organisationen, für die ich in den letzten 25 Jahren gearbeitet habe, vom Obersten Gericht aufgelöst wurden, und deren Leiter*innen entweder im Gefängnis sitzen oder emigriert sind? Was man da tun soll, weiß niemand. Und du läufst einfach im Kreis.


Dann habe ich nach einiger Zeit verstanden, wie sehr es wahrscheinlich ist, dass ich erneut verhaftet werde und ins Gefängnis komme, weil es neue Umstände gibt. Und dass ich nicht das machen kann, was ich mein ganzes Leben gemacht habe, nämlich unabhängige Gewerkschaftsarbeit. Also beschloss ich, ins Ausland zu gehen.


Das Regime in Belarus besteht seit 30 Jahren unverändert und hat das Land in eine klassische Autokratie verwandelt. So sehr die Menschen auch die ganze Zeit versuchten, das Leben im Land zu verbessern – es ist ihnen nicht gelungen. Haben Sie jemals die Schultern hängen lassen? Haben Sie je einmal gedacht, dass all die Anstrengungen zwecklos sind, dass jeden Augenblick irgendjemand in Handschellen abgeführt wird, und die Wache sagt, er oder sie hätte besser den Präsidenten lieben sollen? 


— Nein, ich habe die Schultern nie hängen lassen. Ich verstehe aber, dass heute sehr viele Leute in Belarus lieber nach den Regeln einer routinemäßigen und sicheren Ordnung leben. Jeden Tag zur gleichen Zeit aufstehen, zur Arbeit gehen, nach Hause kommen, dann auf der Datscha herumwerkeln. Und nicht anecken.


Wir als Gesellschaft haben nicht nur 2020 ein Trauma erlebt, man will uns jeden Tag weis machen, dass es nur einen Menschen gibt, der an der Spitze der Macht stehen kann. Das Schicksal aller anderen, die Ansprüche darauf erheben, ist mehr als eindeutig. Und dass das System nur um diesen Menschen herum aufgebaut sein kann.


Jetzt sind wir in einer Phase, in der meine Kolleg*innen und ich versuchen, wieder Gewerkschaftsarbeit zu machen. Ich würde mich gern nützlich machen, in meinem Land wie auch im Ausland. Schließlich ist diese Situation in Belarus nicht einmalig. Ich will nicht, dass irgendwo auf dieser Welt das Gleiche passiert.


Ich weiß nicht, wie mein weiteres Schicksal aussieht, und das meiner Kolleg*innen. Aber wir müssen versuchen, eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung zurück nach Belarus zu bringen. Das muss aber so gemacht werden, dass es endgültig und unumkehrbar ist.


Das Interview führte Viktoria Leontjewa


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