Die Belarussische Gewerkschaft der Mitarbeiter der Chemie-, Bergbau- und Ölindustrie (Belchimprafsajus), eine Mitgliedsgewerkschaft des Gewerkschaftsbunds von Belarus (FPB), fungiert als wichtiges Element der staatsnahen Gewerkschaftsstrukturen. Sie vereinigt heute über 100.000 Mitarbeiter*innen in einem der gewinnträchtigsten Wirtschaftsbereiche des Landes, darunter solch führender Unternehmen wie Belaruskalij, Naftan, Hrodna Asot und die Raffinerie Masyrski NPS.
Bei einem Besuch des Internetauftritts von Belchimprafsajus fällt einem vielleicht auf, dass bei den „Wichtigsten Tätigkeitsbereichen“ als erster Punkt die „Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden und gesellschaftlichen Zusammenschlüssen sowie die Weiterentwicklung der Sozialpartnerschaft“ zu finden ist. Erst später folgt der „Einsatz für die sozialen und wirtschaftlichen Rechte und Interessen der Gewerkschaftsmitglieder“. Das ist bei der offiziellen Seite dieser Organisation kein Zufall, sondern ein Merkmal des Erbes des sowjetischen Systems und sowjetischer Ideologie bei Belchimprafsajus, bei der die Zusammenarbeit mit der Staatsmacht stets im Vordergrund stand.
Dieses Prinzip zieht sich durch die Geschichte von Belchimprafsajus. Das Fehlen einer tatsächlichen Selbständigkeit und die Unterordnung unter jedes Regime sind die wichtigsten Existenzbedingungen dieser Organisation. Gerade weil sie nicht als Kraft der Werktätigen die Interessen der Mitarbeiter vertritt, fällt es ihr leichter, sich einem herrschenden Regime unterzuordnen, das gleichzeitig bei der überwiegenden Mehrheit der Großunternehmen in Belarus als Arbeitgeber auftritt.
Das Wesen dieser Organisation besteht darin, dass sie einen Dialog oder eine Sozialpartnerschaft nur imitiert und dabei vollkommen vom Regime abhängig ist. Sie stärkt nicht den Grundsatz der Eigenständigkeit und des Kampfes für die Rechte der Mitarbeiter*innen, was sie wenig wirksam und hilflos macht.
Belchimprafsajus ist Anfang des 20. Jahrhundert entstanden und hat mit der Zeit ihre ursprüngliche Rolle eingebüßt. Die Gewerkschaft wurde zu einer Organisation, die auf eine Stärkung der Produktionsprozesse und eine Bereitstellung diverser Vergünstigungen ausgerichtet ist.
Das Vakuum, das nach dem Zerfall der UdSSR im Gewerkschaftssystem von Belarus entstand, führte zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften, die als Konkurrenz, ja gar als Opponent*innen der regimefreundlichen Gewerkschaften wahrgenommen wurden. Demokratische (also unabhängige) Gewerkschaften, wie etwa die Belarussische Unabhängige Gewerkschaft (BNP), die Belarussische Freie Gewerkschaft (SPB) oder die Konföderation der Arbeit von Belarus (KPB) stießen bei den Funktionär*innen der etablierten Gewerkschaften auf Unverständnis und wurden beschuldigt, die Arbeiterbewegung zu fragmentieren.
Langsame Transformation und Unterordnung
In den 1990er Jahren erlebte der Gewerkschaftsbund von Belarus (FPB) bei dem Versuch, den Weg von einer posttotalitären hin zu einer demokratischen Organisation zu gehen, einen Misserfolg. Die Konfrontation mit Aljaksandr Lukaschenka nach dessen Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 ließ dessen autokratischen Charakter sichtbar werden. Der Streik bei der Minsker U-Bahn 1995 war der Wendepunkt. Durch den Einsatz von Gewalt zur Unterdrückung von Protesten der Arbeiter*innen wurde die Kompromisslosigkeit Lukaschenkas mehr als deutlich.
Die Transformation von Belchimprafsajus und des FPB ging insgesamt nur schleppend voran. Die Eingliederung des FPB in die internationale demokratische Gewerkschaftsbewegung brachte nur sehr geringe Ergebnisse. Die mentale Bindung der Gewerkschaftsführung zu den Unternehmensleitungen und die direkte Abhängigkeit standen einer Demokratisierung der Organisation entgegen.
Nach den zweiten Präsidentschaftswahlen beschloss Lukaschenka endgültig, sich den wichtigsten Gewerkschaftsbund des Landes gefügig zu machen. Druck über den Bankensektor und über Anhänger innerhalb der FPB führten zur Ablösung ihres Vorsitzenden Franz Witko und zur Ernennung von Leanid Kosik, dem früheren stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration von Lukaschenka.
Kosik hatte die Aufgabe, in der Arbeiterbewegung die „Ordnung“ wiederherzustellen, wozu auch die volle Kontrolle über den FPB und die Beseitigung von Konkurrenz in Gestalt des Belarussischen Kongresses demokratischer Gewerkschaften (BKDP) gehörte. Mit verschiedenen Methoden, unter anderem über eine angebliche Korruptionsbekämpfung in den Strukturen des FPB, wurden unliebsame Gewerkschaftsführer*innen ersetzt.
Gleich nach der Wahl Kosiks Wiederwahl nahm Aljaksandr Lukaschenka den Vorsitzenden des FPB 2003 durch den Erlass Nr. 18 in das Kaderregister des Staatschefs der Republik Belarus auf. Von da an galt der FPB-Vorsitzende als Bestandteil des Verwaltungsapparates. Das ist auch der Grund, warum der Vorsitzende des FPB die vergangenen 20 Jahre regelmäßig Bericht über die Tätigkeit des Gewerkschaftsbundes erstattete, und zwar gegenüber Aljaksandr Lukaschenka, dem obersten Arbeitgeber des Landes.
Ab 2004 ging die Regierung intensiv gegen die unabhängigen Gewerkschaften vor. Das gemeinsame Vorgehen der Präsidialadministration und der lokalen Behörden sollte unabhängige Gewerkschaften ersticken, und zwar durch ein Vertragssystem und eine Stärkung von Belchimprafsajus als einziger Sozialpartnerin in den Unternehmen von Belnaftachim.
2007 beschuldigte Wasil Korabau, der Anführer der Belarussischen Unabhängigen Gewerkschaft (BNP), und später auch Jury Schwez, Vorsitzender der BNP-Basisorganisation bei Masyrski NPS, die Vertreter*innen von Belchimprafsajus und die Verwaltungen einiger Unternehmen, Mitglieder der unabhängigen Gewerkschaft zum Austritt genötigt werden. Zudem schloss die Leitung von Belchimprafsajus 2009 sogar einen Tarifvertrag mit der Konzernleitung und für die Branche ab, insgeheim, ohne die BNP in Kenntnis zu setzen.
Alle diese Umstände wurden der Leitung der International Federation of Chemical, Energy, Mine and General Workers' Unions (ICEM) mitgeteilt, mit der Forderung, Belchimprafsajus wegen feindseligen Vorgehens auszuschließen. Es folgte jedoch kein Ausschluss und die Führung von Belchimprafsajus stritt weiterhin die Vorwürfe ab, wobei sie nun vorsichtiger zu Werke ging.
Abrechnung mit den „Unabhängigen“
2010 wurde Swjatlana Klatschok zur Vorsitzenden von Belchimprafsajus ernannt. Sie ist das perfekte Beispiel einer regierungsfreundlichen Gewerkschaftsfunktionärin. Da sie bei dem Konzern Belmedpreparaty arbeitete und dort den Posten der Generaldirektorin für Personal- und Ideologiefragen bekleidete, verfügte sie über Erfahrung bei der Leitung einer Gewerkschaftsorganisation und über Kenntnisse bei der Ideologiearbeit mit Werktätigen.
Ein*e Ideologiedirektor*in spielt in einem belarussischen Unternehmen eine wichtige Rolle, da diese*r die ideologische Lage verfolgt und im Unternehmen „die Staatsmacht unterstützt“. Er/sie ist verpflichtet, mit den örtlichen Behörden, dem Innenministerium und dem KGB zusammenzuarbeiten und soll für Stabilität sorgen und im betreffenden Unternehmen ideologische Gegner des Lukaschenka-Regimes im Auge haben, unter anderem politische und zivilgesellschaftliche Aktivist*innen und Vertreter*innen demokratischer Gewerkschaften.
In diesem Kontext ist die Figur der aktuellen Führerin von Belchimprafsajus besonders bezeichnend. Seit 2007 waren die demokratischen Gewerkschaften und ihre Mitglieder durch Druck und ein weitverbreitetes System kurzfristiger Arbeitsverträge in die Enge getrieben worden. Die Unternehmensverwaltungen versuchten die Mitarbeiter*innen zu zwingen, aus der BNP auszutreten und zu Belchimprafsajus zu wechseln. Als Druckmittel gegen Mitglieder unabhängiger Gewerkschaften diente das „Instrument“ der kurzfristigen Arbeitsverträge. Beispiele von Nötigung und Diskriminierung finden sich in den jährlichen Berichten wieder, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eingingen.
In zwölf Jahren ist die Mitgliederzahl der größten unabhängigen Gewerkschaft BNP von 7.000 auf 4.500 zurückgegangen. Das Gleiche passierte mit der Gewerkschaft der Radio- und Elektronikindustrie (REP), der Belarussischen Freien Gewerkschaft (SPB) und der Freien Gewerkschaft der Metallarbeiter*innen (SPM). Die demokratischen Gewerkschaften in den Staatsunternehmen wurden mit Diskriminierungen überzogen, um ihre Repräsentanz zu schwächen.
Beim Versuch, eine außersystemische Gewerkschaft zu gründen, stießen die betreffenden Mitarbeiter*innen auf den Widerstand regimefreundlicher Gewerkschaften, die bestrebt waren, das Aufkommen alternativer Organisationen zu verhindern, insbesondere in Staatsunternehmen. Ein trauriges Beispiel war der Versuch, eine Basisorganisation der BNP beim Produktionsunternehmen Hranit zu gründen, wobei in der Folge neun Aktivist*innen und Führungspersonen der Organisation entlassen wurden und man der Basisorganisation die Registrierung verweigerte.
Von 2010 bis 2019 hat die BNP zwei Mal gefordert, dass Belchimprafsajus wegen Verletzung der Satzungsprinzipien aus dem Weltgewerkschaftsverband IndustriAll ausgeschlossen wird. Diese Gesuche blieben jedoch ohne Ergebnis. Nicht einmal der Umstand, dass Iwan Halawaty, Generaldirektor von Belaruskalij und einer der vehementen Bekämpfer unabhängiger Gewerkschaften, Mitglied von Belchimprafsajus ist, änderte etwas an dem Status dieser Gewerkschaft innerhalb der internationalen Gewerkschaftsbewegung.
Im Dienste des Regimes
Im August 2020 verschlechterte sich die Lage der Arbeiterbewegung in Belarus drastisch, nachdem Arbeiter*innen offen gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte und die Fälschung der Präsidentschaftswahlen protestiert hatten. Die spontanen Versammlungen in Dutzenden Unternehmen hatten das Regime stark alarmiert. Ein Zeichen des Protests waren auch die massenweisen Austritte aus Gewerkschaften, die mit dem FPB verbunden waren. Letzterer wiederum wird mit dem politischen Regime assoziiert.
Zu erwähnen ist auch, dass Michail Orda, der Vorsitzende des FPB, bei den Präsidentschaftswahlen 2020 Gewährsmann von Aljaksandr Lukaschenka war. Zudem beteiligten sich die Gewerkschaften des Verbandes – unter anderem Belchimprafsajus – aktiv am Wahlkampf und an der Unterschriftensammlung für Lukaschenka. Die Folge hiervon waren massenhafte Austritte aus den Gewerkschaften des FPB. Rund 5.000 Mitarbeiter*innen verließen die regimefreundlichen Gewerkschaften und machten ihren Wunsch deutlich, einer unabhängigen Gewerkschaft beizutreten oder eine eigene zu gründen.
Nach der Zerschlagung der Proteste und dem Beginn des politischen Terrors wurden die BNP und andere demokratische Gewerkschaften von den Behörden wegen Unterstützung der Streikbewegung aufgelöst. Ihre Anführer*innen wurden verhaftet oder mussten außer Landes gehen. Jetzt hatten Belchimprafsajus und auch der FPB keine Konkurrenz mehr im Land.
Einige Funktionär*innen von Belchimprafsajus nahmen sogar an Gerichtsprozessen gegen Führungspersonen und Aktivist*innen unabhängiger Gewerkschaften teil. So etwa Andrej Rybak, der Vorsitzende der Basisorganisation von Belchimprafsajus bei Belaruskalij, der erklärte, seine Gewerkschaft sei gegen die Streiks gewesen, während die Unabhängige Gewerkschaft die Streiks unterstützte. Bei diesem Gerichtsverfahren wurde Aljaksandr Mischuk, der stellvertretende Vorsitzende der BNP, zu zweieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt.
Auch ist bekannt, dass der Vorsitzende von Belchimprafsajus bei Hrodna Asot, Andrej Raschynski beim Prozess gegen Mitglieder der Initiative Rabotschy Ruch („Arbeiterbewegung“) und Mitglieder der BNP als Zeuge auftrat. Er sagte dabei gegen Mitarbeiter*innen des Unternehmens in Hrodna aus, die dann zu 14 Jahren Strafkolonie verurteilt wurden.
Die Anführer*innen der regimefreundlichen Gewerkschaften waren nicht nur während der Proteste auf Seiten des herrschenden Regimes aktiv, sie machten sich auch nach deren Zerschlagung an die Propagandaarbeit. So hält Smizer Schwajba aus der Führungsetage von Belchimprafsajus Vorträge, mit denen er die Propaganda des Regimes verbreitet.
Mittäterschaft bei der Verschleppung von Kindern aus der Ukraine
Seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine verbreitet der FPB auf seinen Informationsplattformen intensiv regimefreundliche Kriegspropaganda. Mitglieder des FPB nehmen an militärideologischen Veranstaltungen teil und Belchimprafsajus arbeitet mit einer Stiftung zusammen, die die zwangsweise Verbringung von Kindern aus der Ukraine nach Belarus unterstützt. Das wird von der internationalen Gemeinschaft als ein Merkmal für Völkermord betrachtet.
Der Vorsitzende der Minsker Gebietsorganisation von Belchimprafsajus, Smizer Schwajba, nahm im März 2022 an Veranstaltungen der Aljaksej-Talaj-Stiftung teil. Er hat bestätigt, dass bei der Verbringung auch Sanatorien und Erholungseinrichtungen von Belchimprafsajus genutzt werden:
„Für folgende Gruppen ukrainischer Kinder halten wir hundert Plätze in unserem igenen Erholungsheim bereit, mit Vollpension und für drei Wochen. Darüber hinaus werden wir alle Kinder unterstützen, die ihr Leben mit unserer Industrie verbinden wollen. Und das sind nicht wenige, weil viele von ihnen aus Bergarbeiterfamilien kommen. Junge Menschen mit dem richtigen Rückgrat, mit hellen Augen… Sie können auf die Technische und Bergbaufachhochschule Salihorsk oder die Fachhochschule Petrikau gehen, nicht nur Wohnraum bekommen, sondern auch ein Stipendium von unseren Unternehmen, um in Zukunft bei uns zu arbeiten.“
Nach Informationen der britischen Zeitung The Telegraph werden die Kinder aus der Ukraine vor allem in vier belarussischen Einrichtungen untergebracht: im Erholungsheim Dubrawa, im Sanatorium Astraschyzki Haradok, in Nationalen Bildungs- und Erholungszentrum Subrjonok (allesamt im Gebiet Minsk) und im Sanatorium Salatyje Pjaski im Gebiet Homel. Seit dem Herbst 2022 konnten sich dort über 2.000 Kinder aufhalten.
Das alles geschah vor dem Hintergrund der Verhaftung der BKDP-Führung, die gefordert hatte, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden und die russischen Streitkräfte vom belarussischen Territorium abzuziehen.
Nachdem sich das Lukaschenka-Regime seit Februar 2022 in einen militärischen Satelliten Russlands verwandelte, sind eine Reihe von Sanktionen gegen Belarus verhängt worden, die wichtige Wirtschaftsbereiche des Landes trafen. Jetzt wird mit allen Mitteln versucht, die Mitgliedschaft von Belchimprafsajus bei IndustriALL auszunutzen. Letztere dient als Plattform, auf der die Isolation überwunden und Beziehungen zu Gewerkschaften im globalen Süden geknüpft werden können, um die sanktionierten Produkte weiter verkaufen zu können. Dabei geht es in erster Linie um Mineraldünger.
Das ist auch der Grund, warum die Regierung jetzt versucht, Beziehungen zur brasilianischen Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) und Vertreter*innen der brasilianischen Botschaft aufzubauen. Vor kurzem hat die belarussische Propaganda ausgiebig die Frage eines möglichen Besuchs von Lula da Silva in Minsk breitgetreten. Belchimprafsajus spielt in diesem Schauspiel im Grunde die Rolle eines trojanischen Pferdes des Regimes.
Die demokratische Arbeiterbewegung im heutigen Belarus ist zerschlagen, und die Unternehmen sind von „unzuverlässigen“ Mitarbeiter*innen gesäubert. Die Tätigkeit nicht registrierter Gewerkschaften ist gesetzlich verboten und wird von den Sicherheitsbehörden verfolgt. Den Mitarbeiter*innen dürfen nur innerhalb der einzig verbliebenen gewerkschaftlichen Struktur Mitglied werden, nämlich im Rahmen des Gewerkschaftsbundes von Belarus (FPB), zu dem Belchimprafsajus gehört. Belarus ist zielstrebig zu den Praktiken der Stalinzeit zurückgekehrt. Ganz nach dem Motto: ein Führer, eine Partei, eine Gewerkschaft!
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