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112. Internationale Arbeitskonferenz erörtert Verletzungen der Arbeiter*innenrechte in Belarus

Auf der 112. Internationalen Arbeitskonferenz in Genf hielt der Ausschuss für die Durchführung der ILO-Normen eine spezielle Sitzung ab, auf der die eklatanten Verletzungen der Arbeiter*innenrechte in Belarus thematisiert wurden. Die Teilnehmer*innen erörterten die Belege für Repressionen und die Verfolgung von Gewerkschaftsführer*innen durch die belarussische Regierung.



Der Ausschuss für die Durchführung der ILO-Normen und -Standards hat heute auf einer Sondersitzung Berichte angehört, die die Verletzung von Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation durch Belarus behandeln.


Vertreter*innen der Arbeitnehmer*innenseite teilten dem Ausschuss mit, dass das herrschende politische Regime in Belarus im Laufe der letzten drei Jahre sämtliche unabhängigen Gewerkschaften aufgelöst und deren Tätigkeit im Land offiziell verboten hat. Fast 60 Gewerkschaftsführer*innen und -aktivist*innen sind zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Unter ihnen ist Aljaksandr Jaraschuk, nachrückendes Mitglied des Verwaltungsrates der ILO, Vizepräsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB/ITUC) und Vorsitzender des Belarussischen Kongresses Demokratischer Gewerkschaften (BKDP). Er wurde zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt.


Während der Proteste im August 2020 verließen Tausende Arbeiter*innen aus Protest gegen die Wahlfälschung durch Lukaschenka den regimefreundlichen Gewerkschaftsbund von Belarus (FPB). Viele schlossen sich dann freien und demokratischen Gewerkschaften an. In Dutzenden Unternehmen wurden neue gewerkschaftliche Basisorganisationen gegründet. Das ließ die Unternehmensleitungen und Sicherheitsbehörden vor Wut kochen. Keiner einzigen der neugegründeten Organisationen wurde eine Registrierung gewährt, und deren Aktivist*innen wurden verfolgt.


Daraufhin wurde der Belarussische Kongress Demokratischer Gewerkschaften (BKDP), der in den letzten 20 Jahren ständig einer Diskriminierung durch das Lukaschenka-Regime ausgesetzt war, von der Regierung als reale politische Gefahr wahrgenommen. Der Entschluss des Regimes zur Zerschlagung demokratischer Gewerkschaften erfolgte, nachdem der BKDP sich offen gegen die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine wendete und den Abzug der russischen Truppen von belarussischem Territorium forderte.


Vertreter*innen der ILO hoben hervor, dass sämtliche Erfolge der letzten Jahrzehnte bei der Verbesserung der Beziehungen zwischen der Regierung, den Arbeitgeber*innen und den unabhängigen Gewerkschaften nach 2020 in Belarus begraben werden mussten.


Die Repressionen der belarussischen Regierung gegen Werktätige haben dazu geführt, dass am 12. Juni 2023 auf der Internationalen Arbeitskonferenz eine Entschließung der ILO zu Belarus verabschiedet wurde. Die Resolution ruft zu Maßnahmen gemäß Artikel 33 der ILO-Verfassung auf. Damit soll gewährleistet werden, dass die Empfehlungen des Sachverständigenausschusses für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen in Bezug auf das Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit und die Stärkung des Vereinigungsrechts (Nr. 87 von 1948) und auf das Übereinkommen über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen (Nr. 98 von 1949) umgesetzt werden.


Ihar Starawojtaŭ, der Vertreter der belarussischen Regierung, leugnete in schon bekannter Manier sämtliche Kritikpunkte der internationalen Organisation, wobei er diese Frage als politisiert und als von westlichen Staaten provoziert bezeichnete. Er erklärte, ein solches Vorgehen habe lediglich zum Ziel, die wirtschaftliche Lage der einfachen Leute zu verschlechtern, um in der Gesellschaft für soziale Spannungen zu sorgen. Nach Ansicht der belarussischen Regierung habe sich nach 2020 alles verändert, woran nicht Belarus Schuld sei. An der Organisation der Unruhen, so Starawojtaŭ, seien auch Strukturen beteiligt gewesen, die sich unter dem Schutz des BKDP zusammengeschlossen hätten.


Der belarussische Offizielle hob hervor, dass die ILO zu einer Plattform für Lobbyisten aus den Ländern des Westens geworden sei, die versuchen, Belarus unter Druck zu setzen. Und alles, was im Land geschieht, sei eine innere Angelegenheit von Belarus. Diese Position wurde von Vertreter*innen Chinas, Russlands, Ägyptens, Venezuelas, Kubas, Nicaraguas, von Laos, Eritreas, Aserbaidschans, Kasachstans, Turkmenistans, Syriens und Malis unterstützt. In diesen Ländern hat die Wahrung der Rechte der Werktätigen keine Priorität.


Die Vertreter*innen dieser Länder hoben hervor, dass es mit dem Gewerkschaftsbund von Belarus (FPB) einen vollwertigen Zusammenschluss von Gewerkschaften gebe, der zu dieser Sitzung 12 Personen mit dem neugewählten Vorsitzenden Juryj Sjanko an der Spitze entsandt hat. Dieser wiederum hob die Mitgliederzahl des FPB und seiner Basisorganisationen hervor. Er verwies auch auf die Zahl der Tarifverträge und kollektiven Abkommen von Mitgliedsorganisationen. Seine übrigen Thesen wiederholten die von Starawojtaŭ vorgetragenen Regierungspositionen.


Das überzeugte jedoch weder die Seite der Beschäftigten noch die der Regierungen und die der Arbeitgeber*innen.


Der Leiter der Arbeitgeber*innenseite, Marc Lemans, unterstrich, dass sich die Lage weiterhin verschlechtert und im Land Gewerkschaftsaktivist*innen nach wie vor verfolgt werden. Als Beispiel nannte er die Strafverfahren, die gegen den bereits freigelassenen Leanid Sudalenka und die festgenommene Wolha Bryzikawa eröffnet wurden. Die Haftbedingungen von Aljaksandr Jaraschuk wurden verschärft. Die Materialien der Organisation Salidarnast e.V. wurden als extremistisch eingestuft. Den FPB bezeichnete er als vom Staat abhängige Organisation.


Paul Noll, der Leiter der Arbeitgeber*innenseite, verwies auch auf fehlende Fortschritte bei der Umsetzung von ILO-Anforderungen und die Entschließung der letztjährigen Konferenz zu Belarus. Er rief die belarussische Regierung zu einem Dialog auf.


Maryja Scharyloŭskaja, Maksim Pasnjakoŭ und Lizaveta Merliak
Maryja Scharyloŭskaja, Maksim Pasnjakoŭ und Lizaveta Merliak

Die Vertreter*innen der Mitgliedsstaaten der EU, der nordischen Länder, der Schweiz, Kanadas, der USA und Großbritanniens konstatierten mit Bedauern, dass sich die Lage im vergangenen Jahr nicht verändert und die belarussische Regierung keinerlei Schritte für eine Lösung unternommen habe. Silvain Laberge, ein Vertreter Kanadas, hob hervor, dass die Beschäftigten, die des Rechts auf Vereinigung beraubt wurden, zur Mitgliedschaft im einzigen Gewerkschaftsverband des Landes, dem FPB, genötigt werden.


Die Vertreter*innen von Brasilien und Kolumbien erinnerten daran, dass ihre Länder ebenfalls eine Ära der Diktatur und der Verfolgung von Gewerkschafter*innen erlebt haben. Unter anderem hatte auch der derzeitige Präsident Brasiliens, Luna da Silva, wegen seiner Gewerkschaftsarbeit im Gefängnis gesessen. Antonio Vale aus Brasilien rief dazu auf, die Gewerkschaftsaktivist*innen, die wegen friedlicher Proteste im Gefängnis sitzen, freizulassen.


Der Name Aljaksandr Jaraschuk wurde praktisch in jedem Redebeitrag unter Forderung nach seiner Freilassung genannt. Ganz wie die Namen der anderen Gewerkschaftsaktivist*innen. Elly Rosita Silaban aus Indonesien nannte nacheinander die Namen aller Gewerkschafterinnen, die in den Gefängnissen sitzen. Und Kirill Buketow, der die Internationale Gewerkschaft der Nahrungsmittelarbeiter*innen (IUF) vertrat, erinnerte an die Familien der Gewerkschaftsführer*innen, die keine Möglichkeit haben, ihren inhaftierten Angehörigen humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Die Forderung nach Freilassung der Gewerkschaftsaktivist*innen in Belarus wurde von den Vertreter*innen von IndustiALL, BWI und PSI bekräftigt.


Rede von Maksim Pasnjakoŭ
Rede von Maksim Pasnjakoŭ

Auf der Sitzung des Ausschusses waren auch Vertreter*innen der von der belarussischen Regierung zerschlagenen unabhängigen Gewerkschaften anwesend. Unter anderem meldete sich Maksim Pasnjakoŭ vom Internationalen Gewerkschaftsbund (IGB/ITUC) zu Wort, der geschäftsführende Vorsitzende des BKDP. Er hob hervor, dass sämtliche konstruktiven Vorschläge des Verwaltungsrats und des Internationalen Arbeitsamts (IAA), des ständigen Sekretariats der ILO, von der belarussischen Regierung zurückgewiesen werden:


– Anstelle einer Zusammenarbeit und von Versuchen, einen Ausweg aus der Situation zu finden, versucht die belarussische Regierung mit Hilfe des von ihr kontrollierten FPB, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass die ILO mit der Verabschiedung der Entschließung Sanktionen gegen Belarus verhängt habe, die den Arbeiter*innen und den vulnerablen Bevölkerungsschichten Schaden zufügen und politischen Druck auf das Land darstellen. Derlei Erklärungen seien ein Versuch, alle in die Irre zu führen.

Er hob hervor, dass die Sanktionen gegen Belarus wegen ganz anderer Vorgänge verhängt wurden, die weit vor der Entschließung liegen, und er unterstützte sämtliche Vorschläge der ILO, einschließlich der Entsendung einer trilateralen Mission und der Ernennung eines/r besonderen Vertreter*in des Generaldirektors. Erwähnenswert ist auch, dass Gilbert Houngbo, der Generaldirektor der ILO, auf der Sitzung anwesend war, was die Bedeutung dieses Problems für die ILO verdeutlicht.


Pasnjakoŭ forderte darüber hinaus die Entfernung sämtlicher Gewerkschafter*innen aus den offiziellen belarussischen Verzeichnissen der „Extremisten“ und „Terroristen“. Außerdem müsse unabhängigen Mediziner*innen der Zugang zu Aljaksandr Jaraschuk, Wasil Beresnjoŭ, Wazlaŭ Areschka und Hennads Fedynitsch gewährt werden.


Zu den Forderungen des Vertreters der IGB/ITUC gehörten auch die nach einem gemeinsamen Einsatz von Sonderverfahren der ILO und der UNO: Berichte, Apellationsschreiben, Eilanträge, Presseerklärungen und Ortsbegehungen. Hierzu gehört auch die Bildung einer Arbeitsgruppe zur gemeinsamen Arbeit der ILO und anderer Institutionen der UNO unter Artikel 33 der ILO-Verfassung. Außerdem sollte ein exakter Mechanismus zur Erhebung von Informationen darüber ausgearbeitet werden, welche Maßnahmen die Staaten im Rahmen der Entschließung zu Belarus unternommen haben. Hierzu gehören auch alljährliche Berichte, die vom Verwaltungsrat der ILO im März begutachtet werden.


Zum Schluss der dreistündigen Sitzung erinnerte der Vorsitzende Łukasz Różycki daran, dass die Entscheidung des Ausschusses am 13. Juni ausgearbeitet wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass zu dieser Frage eine Abstimmung angesetzt wird. Schließlich hatte die belarussische Seite auf einen fehlenden Konsens verwiesen.


Der Ausschuss für die Durchführung der Normen (CAS) ist ein unabdingbarer Bestandteil des Kontrollsystems der ILO, da er die Umsetzung der ILO-Standards durch die Mitgliedsstaaten überprüft. Der Ausschuss besteht aus Regierungsvertreter*innen, Abgeordneten der Arbeitgeber*innen und der Werktätigen und ist ein ständiges Gremium der Internationalen Arbeitskonferenz.


Die Vertreter*innen der Seite der Werktätigen und der Arbeitgeber*innenseite erörtern die Situation und erstellen ein Verzeichnis der Länder, in denen ernste Verstöße von Übereinkommen der ILO festgestellt wurden, die von diesen Ländern ratifiziert wurden. Die betreffenden Regierungen müssen dann darauf reagieren und Informationen zur betreffenden Frage vorlegen. Diese werden dann auf der Plenarsitzung der Internationalen Konferenz erörtert.


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